An der falschen Adresse

„Ich habe noch ganz kurzfristig online einen Termin reingekriegt“, sagt Gabi. „Zwei Kinder, drei und fünf, mit der Standard-Nikolaus-Tüte und Kurzeintrag im Goldenen Buch. Ich habe zurückgeschrieben, ich kann nichts versprechen, aber wo du jetzt so früh von deiner Tour zurück bist …“

Sie hat die Tüte schon auf dem Schreibtisch stehen. Das Vermittlungsbüro, für das ich diese Saison als Weihnachtsmann in Mühlhausen und Umgebung arbeite, lässt sich nur ungern einen Auftrag durch die Lappen gehen.

„Na gut“, seufze ich und stecke die Tüte in den Jutesack, der zu meinem Kostüm gehört. „Dann übernehme ich die noch. Wenn es nicht zu weit draußen ist … es hat gehörig geschneit heute.“

„Nein, das ist in einem Wohngebiet in der Neustadt“, antwortet Gabi und reicht mir das Formular aus ihrem Drucker. „Haydnweg 14. Das hast du schnell hinter dir.“ Sie zwinkert mir zu. „Ich habe einen Last-Minute-Aufschlag vereinbart. Zwanzig Euro extra, die teilen wir uns selbstverständlich.“

„Na dann!“ Ich winke ihr zu und mache mich auf den Weg. Eigentlich brauche ich die zehn Euro extra nicht. Genau genommen brauche ich das zusätzliche Einkommen überhaupt nicht. Aber der Job als Weihnachtsmann hat auch andere Vorzüge.

Ich finde den Haydnweg ohne Probleme. Das Haus Nummer 14 sieht einladend aus: Die Fenster sind erleuchtet, in den Kästen davor funkeln Lichterketten, und an der Tür hängt ein Kranz mit einer großen roten Schleife.

Auf dem Weg zur Haustür versucht gerade eine zierliche Frau in einer dicken Daunenjacke, den Schnee wegzuschaufeln, der seit gestern unablässig fällt. Sie schaut mich überrascht an. „Ein Weihnachtsmann? Was tun Sie denn hier?“

„Sie haben doch einen bestellt“, erkläre ich verwirrt. „Sind die Kinder drinnen?“

„Ich habe keine Kinder“, erwidert sie. „Und ganz bestimmt habe ich keinen Weihnachtsmann bestellt. Ich bräuchte eher den Winterdienst.“ Sie hackt verzweifelt auf die Schneedecke ein. Leider ist sie nicht so leicht und fluffig, wie man sich das wünscht, sondern klebrig-schwer.

„Aber das hier ist doch der Haydnweg 14?“, frage ich und schaue zur Sicherheit noch mal auf meinen Zettel.

„Ja, das stimmt“, seufzt sie und unterbricht ihre Bemühungen. „Vielleicht ist da was falsch aufgeschrieben worden. Drüben im Industriegebiet gibt es nämlich einen Heideweg. Bestimmt wohnt dort die Familie, die Sie suchen.“ Wieder hebt sie mühsam eine Schüppe voll Schnee hoch und versucht, ihn zur Seite abzuladen, was nicht ganz gelingt.

„So wird es wohl sein“, sage ich. Sie scheint doch älter zu sein als ich zunächst dachte. Aber egal wie alt sie ist, diese Arbeit ist zu schwer für sie. „Ich werde das gleich prüfen. Aber erst einmal geben Sie mir Ihre Schneeschaufel, das ist ja nicht mit anzusehen.“ Ich ziehe ihr das Ding geradezu aus der Hand.

Zuerst ist sie skeptisch. Aber dann nickt sie und sagt: „Wenn Sie dann noch Zeit für einen schnellen Glühwein haben? Ich kann Sie doch nicht einfach so hier arbeiten lassen.“

Mir ist egal, dass jetzt noch eine Familie auf mich wartet. Es ist mir wichtiger zu verhindern, dass diese arme Frau sich den Rücken bricht. „Fünf Minuten für einen  Glühwein habe ich auch noch.“

„Dann mache ich mal fix welchen heiß“, sagt sie und geht ins Haus zurück.

Mir wird ganz schön warm bei der Arbeit. Wer immer dieses Grundstück geplant hat, scheint Vorgärten mit reichlich Zuwegung zu mögen, und der Bürgersteig muss auch gemacht werden. Sie steht schon vor der Tür, als ich endlich fertig bin, und lächelt dankbar. „Kommen Sie mit in die Küche.“

Ihre Küche ist richtig gemütlich mit einem soliden Holztisch, an den man sich direkt setzen und nicht wieder aufstehen möchte. Deshalb bleibe ich lieber stehen, als sie mir die Tasse reicht. Der Glühwein ist noch sehr heiß, wie ich feststellen kann. Ich puste vorsichtig.

„Essen Sie erst mal ein Plätzchen“, sagt sie und hält mir eine Schale entgegen. „Sonst isst die hier ja keiner.“ Ich nehme mir ein Vanillekipferl. Eigentlich sollte ich es nicht tun, denn die hat Lucy auch immer gebacken, und an die möchte ich heute auf keinen Fall denken.

„Wohnen Sie denn ganz allein hier?“, frage ich rasch.

Sie nickt, so dass ihre kinnlangen braunen Haare wippen. Nachdem sie diese Daunenjacke ausgezogen hat, wirkt sie noch zierlicher. „Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben, und mein Sohn lebt gerade in den USA. Haben Sie Familie?“

„Nicht mehr“, sage ich, obwohl ich eigentlich nur den Kopf schütteln wollte. Aber sie hat irgendwas an sich, das es mir leichter macht, darüber zu sprechen. „Meine Partnerin hat sich im Sommer von mir getrennt. Sie hat zwei Töchter, aber zu denen habe ich nun auch keinen Kontakt mehr.“

Sie nickt verständnisvoll. „Dann ist die Weihnachtszeit für Sie auch nicht so toll, was? Wie kommt es, dass Sie dann ausgerechnet als Weihnachtsmann unterwegs sind?“

„Es gibt mir jeden Abend was zu tun“, antworte ich ehrlich. „Sonst säße ich ja nur zuhause in der leeren Wohnung.“

„Ja, das kenne ich“, meint sie. Es klingt mitfühlend, aber nicht mitleidig. „Der Gedanke ist gar nicht schlecht. Vielleicht sollte ich mich als Christkind bewerben? Aber dafür bin ich vermutlich zu alt.“

Ich trinke erst mal einen Schluck, weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll. „Vermutlich wären eher die fehlenden blonden Locken das Problem“, sage ich schließlich. Ich persönlich finde, dass ihr die dunklen Haare besser stehen. Aber das sage ich natürlich nicht.

Sie lacht amüsiert auf. „Das war jetzt sehr diplomatisch! Noch einen Keks? Hier, die sind mit Marzipan.“

Ich nehme einen. „Dann muss ich aber weiter“, stelle ich bedauernd fest. „Die Arbeit ruft.“

„Natürlich“, sagt sie hastig. „Ich will Sie nicht aufhalten. Aber es war schön, dass Sie sich in der Adresse geirrt haben – nicht nur wegen des Schnees.“ Sie schluckt. „Es war das erste Mal heute, dass ich mit jemandem gesprochen habe.“

Ich weiß, wovon sie redet. Gern würde ich ein wenig länger bleiben. Aber da ist leider noch ein Zettel in meiner Tasche und eine Tüte in meinem Jutesack. „Danke für den Glühwein! Und einen schönen Abend noch.“

Sie begleitet mich zur Tür und schaut mir nach, bis ich in mein Auto steige.

Das Navi hat mich in fünf Minuten zum Heideweg geführt, aber dort gibt es nur eine große Firma hinter einem großen Tor, das verriegelt ist. Hier wohnen definitiv keine kleinen Kinder, die auf einen Weihnachtsmann warten. Stirnrunzelnd prüfe ich die Straßenliste auf meinem Handy. Es gibt noch eine Heinrich-Heine-Straße auf der anderen Seite von Mühlhausen – war vielleicht die gemeint? Ich mache mich missmutig auf den Weg.

Nummer 14 ist ein Bürogebäude mit einer Einliegerwohnung. Nachdem ich mehrmals geklingelt habe, öffnet mir ein verschlafen aussehender Mann im Bademantel. „Was wollen Sie?“, fragt er knurrig.

„Haben Sie einen Weihnachtsmann bestellt?“, frage ich zurück.

„Sehe ich so aus?“, raunzt er mich an. „Was soll der Quatsch? Hauen Sie bloß ab!“

Nichts lieber als das. Ich setze mich ins Auto und rufe bei Gabi an. „Hör mal, ich finde diese Leute mit dem Last-Minute-Auftrag nicht.“

„Haydnweg 14!“, ruft sie ungeduldig. „Das kann doch so schwer nicht sein!“

„Da wohnen keine Leute mit Kindern. Im Heideweg 14 auch nicht. Und in der Heinestraße schon gar nicht.“

„Dann kannst du jetzt aufhören zu suchen“, teilt sie mir ärgerlich mit. „Die haben sich gerade gemeldet und storniert, weil es zu spät geworden ist. Die Kinder mussten ins Bett. Damit ist natürlich auch das Geld futsch, das ist dir hoffentlich klar.“

Mich fuchst das längst nicht so wie sie. Ändern kann ich es sowieso nicht. Ich will gerade den Zettel zusammenknüllen, da fällt mir etwas auf. „Gabi“, sage ich. „Guck dir mal die Adresse an, die sie auf dem Online-Formular eingetragen haben.“

„Haydnweg 14“, wiederholt sie. „Doch, das ist korrekt! In Mühlhausen …“ Sie bricht ab. „Ach du meine Güte, das ist ja eine ganz andere Postleitzahl! Aber das ist deren Schuld, dann haben sie im Internet nicht richtig geguckt. So ein Mist!“

„Kann passieren“, sage ich beruhigend. „Es gibt einige Orte in Deutschland, die Mühlhausen heißen.“

„Tja, dann machen wir beide Feierabend für heute“, beschließt Gabi. „Vergiss nicht, morgen ist die große Weihnachtsfeier im Sängerheim. Sei bloß pünktlich.“

„Hab ich auf dem Schirm“, versichere ich und wünsche ihr eine Gute Nacht.

Ich starte das Auto und beobachte, wie die Scheibenwischer den frischen Schnee von der Windschutzscheibe fegen. Ich könnte jetzt nach Hause fahren, Kostüm und Stiefel ausziehen und meine kalten Füße unter der Couchdecke wärmen, während ich ein Bier trinke. Glühwein oder Weihnachtsplätzchen habe ich nicht.

Ich könnte aber auch zum Haydnweg 14 zurückkehren und fragen, ob nicht doch ein Weihnachtsmann gewünscht wird. Und genau das mache ich jetzt. Ich habe das Gefühl, dort bin ich an der richtigen Adresse.

Zum Ausdrucken oder Weitergeben kommt hier die Geschichte im pdf-Format. Sie kann gern auch bei Veranstaltungen vorgelesen werden. Nur vor einem Abdruck bitte ich, mich vorher zu kontaktieren.